Eine Geschichte der Geometrie


 
 
 
Überblick:

Die Anfänge
Die Griechen
Aspekte der Geometrie
Konstruierte oder entdeckte Welt
 

Die Anfänge

Geometrie (zu deutsch "Vermessung der Erde") ist sicher eine der ältesten Wissenschaften. Überall dort, wo Ausgrabungen Geschichten prähistorischer Kulturen in unsere Zeit sprechen lassen, erzählen sie auch eine Geschichte der Geometrie: regelmäßig oder symmetrisch geformte, bemalte oder angeordnete Alltags-, Gebrauchs-, oder Ritualgegenstände, zeugen von dem Erkennen und Übertragen geometrischer Strukturen, die sich vielfältig in der Natur finden lassen. Kugelähnliche Tongefäße lassen sich bei gleichem Fassungsvermögen materialsparender und stabiler herstellen wie quaderförmige, die sich dafür besser schlichten lassen. Anhand von Gestirnen kann man sich orientieren und bei Malereien in Höhlen und auf Ton erkennt man Menschen, Tiere und Landschaften wieder, wenn man sie so verkleinert darstellt, dass die Proportionen erhalten bleiben.

Auch die mit den ersten Hochkulturen entstehenden Schriftsprachen überliefern geometrisches Wissen aus Baukunst, Handwerk, Landwirtschaft und Astronomie. So konnte man in Ägypten nicht nur geradlinig begrenzte Flächen in rechtwinklige Dreiecke und diese wiederum in Rechtecke flächengleich umwandeln, auch die Formel für das Volumen allgemeiner Pyramidenstümpfe war bekannt. Die Umsetzung dieser Kenntnisse in Bauwerken wie den Pyramiden von Gizeh (ca. 2900 v. Chr.) beeindrucken noch heute:

  die Cheopspyramide, Quelle pixabay

Aus Millionen tonnenschwerer Steinblöcke wurde die Cheopspyramide ohne nennenswerte Winkelabweichungen gebaut. Noch geschickter als die Ägypter waren wahrscheinlich die Babylonier. Sie kannten den sog. "Satz des Pythagoras" und legten mit ihren Dreiecksuntersuchungen die Grundlagen der Trigonometrie. Sogar Kreisnäherungen finden sich bei vielen frühen Hochkulturen, z.B. den Ägyptern, aber auch in der Bibel (z.B. 2.Chronik 4,2). Jedoch unterschieden die Menschen noch nicht zwischen einer Näherung und einer exakten Lösung. Auch wurde nur selten der Versuch unternommen, die Geometrie zu begründen. Geometrisches Wissen war Faktenwissen zur Lösung konkreter Problemstellungen, aber nicht selbst Gegenstand der Untersuchung. Es war die Leistung der griechischen Kultur, die Geometrie auf eine axiomatische Grundlage zu stellen, Näherungen zu analysieren und Behauptungen zu beweisen. Diese elementaren Methoden, die in der Geometrie ihren Anfang nahmen, bestimmen nicht nur die Geometrie, sondern die gesamte Mathematik bis heute.

Die Griechen

Es lässt sich nicht sicher klären, warum manche Griechen begannen, geometrische Aussagen zu hinterfragen. Bestimmt spielt die griechische Philosophie- und Diskussionskultur eine entscheidende Rolle: In Streitgesprächen wurden immer schärfere Maßstäbe angelegt, immer mehr wurde hinterfragt und man begann Argumente auf logische Fehler zu untersuchen (vgl. Logik). Diese konstruktive Skepsis machte wohl auch vor der Geometrie nicht halt und führte in ihrer Präzisierung zum einen zu den berühmten Beweisen von Pythagoras und seinen Schülern und zum anderen zu der Formulierung der Euklidschen Geometrie.

  Pythagoras von Samos, Quelle flickr.com

Die Pythagoräer waren eine Sekte, die eine ganz bestimmte Sicht der Welt hatten. Sie waren unter anderem davon überzeugt, dass sich die Welt durch Verhältnisse natürlicher Zahlen (also 1, 2, 3, und so weiter) darstellen lässt. Nun zeigte aber ein Mitglied dieser pythagoräischen Schule, dass es schon bei vielen einfachen Dreiecken keine gleichlangen Seitenvielfachen gibt: Es gibt z.B. kein ganzzahliges Vielfaches der Diagonalen eines Quadrates, dass genauso lang ist, wie ein ganzzahliges Vielfaches der Kantenlänge (heute würde man sagen: Die Wurzel aus Zwei ist irrational). Der Geschichte nach soll dieser Ketzer ins Meer geworfen worden sein. Das Problem war damit aber nicht gelöst. Man begann nun, die Welt nicht mehr mit Zahlenverhältnissen algebraisch zu beschreiben, sondern geometrisch und das mit so großem Erfolg, dass man hinter der Geometrie eine Wirklichkeit zu vermuten begann, deren unvollkommener Schatten unsere wahrgenommene Welt ist (vgl. Platon). Alle wichtigen Konstruktionen, die mit Kreisen, Geraden und deren Schnittpunkten (Konstruktionen mit Zirkel und Lineal) möglich sind und alle wesentlichen Formeln und Sätze wurden gefunden. Aber es gab schon wieder Probleme, welche sich hartnäckig einer Lösung entzogen. Man suchte Möglichkeiten, um mit Zirkel und Lineal zu einem Kreis ein flächengleiches Quadrat zu konstruieren, einen beliebigen Winkel zu dritteln und aus einer gegebenen Kante eines Würfels die Kante eines Würfels mit doppeltem Volumen zu konstruieren. Diese Probleme wurden erst zweitausend Jahre später von Galois wieder auf die Algebra zurückgeführt, mit deren Hilfe schließlich gezeigt wurde, dass sich diese Aufgaben mit Zirkel und Lineal gar nicht lösen lassen. Auch das Problem der Beschreibung der Diagonalen eines Quadrates mithilfe seiner Kante wurde erst in dieser Zeit von Dedekind endgültig gelöst. Doch sowohl die moderne Algebra wie auch die Analysis waren erst möglich durch eine strengere Formulierung der Mathematik, deren Wegbereiter wieder griechische Pioniere der Geometrie waren.

  Euklid von Alexandria, Quelle wikipedia

Die Begründung der Euklidschen Geometrie geht auf die "Elemente" zurück, ein Werk über die Geometrie, das nicht nur Euklids Ideen darstellt, sondern das geometrische Wissen einer ganzen Epoche (im zweiten, dritten und vierten Buch findet man z.B. die Ergebnisse der Pythagoräer wieder). Trotz einiger Schwächen ist bedeutsam, dass im ersten Buch die Geometrie anhand von Definitionen und Axiomen (vgl. den Logikkurs zur Erklärung) eingeführt wird, mit deren Hilfe sich anschließend die geometrischen Sätze ableiten lassen. Geometrische Sätze stehen nun also nicht mehr zusammenhangslos nebeneinander, sondern werden immer auf die gleiche Grundlage zurückgeführt, ein Prinzip, dem sich inzwischen die gesamte Mathematik verschrieben hat. Die Elemente wurden aus diesem Grund bis in die Neuzeit hinein zu dem Standardwert für jeden, der Geometrie lernen wollte. Doch nicht nur Euklid leistete einen entscheidenden Beitrag zur Präzisierung der Geometrie. Im 5. Buch entwickelt Eudoxos von Knidos seine Proportionenlehre, eine Vorstufe von Richard Dedekinds "Schnitten" und wie in der Analysis führt das Eudoxos zu einem ersten quasi analytischen Beweisverfahren, der Exhaustion. Mithilfe dieses indirekten Beweisverfahrens konnte Archimedes, obwohl "Pi" als reelle Größe nicht zur Verfügung stand, z.B. das Kugelvolumen finden und gemäß der Euklidschen Geometrie streng beweisen. In den letzen Büchern der Elemente wird das räumliche Analogon zu den ebenen regelmäßigen n-Ecken betrachtet, die regulären Körper (Bildquelle wikipedia):
 

Tetraeder
 

Dodekaeder
 

Ikosaeder
 

 

Würfel
 

Oktaeder
 


Euklid bewies, dass diese fünf regulären Körper die einzig möglichen sind. Ein solch hoher Grad an Symmetrie ist offensichtlich etwas Besonderes. Platon glaubte, dass die mathematische Struktur des Universums von Symmetrie geprägt ist und so versuchten viele, aus den regulären Körpern direkt kosmische Modelle zu entwickeln, wie z.B. Kepler. Als erfolgreicher erwies sich dagegen, Rotationen und Spiegelungen zu betrachten, welche auf die regulären Körper aufgrund ihrer Symmetrie keine Auswirkung haben. Solche gruppentheoretischen Symmetriebetrachtungen gehören in der physikalische Grundlagenforschung heute mehr denn je zu den wichtigsten mathematischen Hilfsmitteln.
 
Doch auch die Griechen wendeten ihre Geometrie bereits an, um sich eine Vorstellung von der sie umgebenden Welt zu machen. Aristarchos von Samos wartete, bis der Mond als Halbmond erschien und maß in dem von Erde, Mond und Sonne aufgespannten rechtwinkligen Dreieck den Winkel zwischen Mond und Sonne.
 

 
Aus dem Winkel von 87° schloss er, dass die Sonne etwa 20-mal so weit entfernt ist wie der Mond (tatsächlich ist die Sonne etwa 400-mal so weit entfernt, denn der Winkel beträgt 87°51'). Da bei einer totalen Sonnenfinsternis der Mond die Sonne ziemlich genau abdeckt, ist nach dem Strahlensatz das Verhältnis der Durchmesser von Sonne und Mond das gleiche wie das Verhältnis der Abstände zur Erde. Bei einer Mondfinsternis braucht der Mond etwa die gleiche Zeit, um in den Erdschatten einzutauchen, wie er anschließend im Erdschatten verschwunden ist. Daraus schloss Aristarchos, dass die Breite des Erdschattens dem doppelten Monddurchmesser entspricht und wieder mit dem Strahlensatz, dass der Mond etwa 40 Erddurchmesser von der Erde entfernt ist. Später bestimmte Eratostenes mithilfe von Schatten den Erdumfang, so dass sich schließlich alle Größen in "irdischen" Einheiten bestimmen ließen. Es war also weit vor unserer Zeitrechnung vielen nicht nur bekannt, dass die Erde eine Kugel ist um die der Mond als Kugel kreist und dass die Erde und die anderen Planeten gemeinsam um die Sonne kreisen. Es waren sogar die geometrischen Methoden bekannt, dieses Sonnensystem zu vermessen um sich auch Vorstellungen von den kosmischen Größenverhältnissen zu machen.
 
Alle geometrischen Leistungen des antiken Griechenlandes aufzuzählen würde den Rahmen dieser Internetseite sprengen (Trigonometrie, algebraische Kurven, Kegelschnitte, ...). Es wird jedoch deutlich, wie umfassend und wirkungsvoll die Maßnahmen einer machtpolitisch pervertierten Kirche die Weiterentwicklung der Geometrie durch das gesamte Mittelalter hindurch blockiert haben. Unzählige Entdeckungen und Ideen gingen verloren, nachdem der Vorhang fiel und Dogmen das Denken ablösten. Vor allem im indischen und arabischen Raum wurde in dieser Zeit die Mathematik weiterentwickelt. Die großen Errungenschaften dieser Kulturen liegen im Bereich der Algebra und der Arithmetik. Die Übernahme dieser mathematischen Erkenntnisse und die Wiederentdeckung der antiken europäischen Mathematik führte nach weit über tausend Jahren mathematischen Winterschlafes in Europa zu einer Renaissance der Geometrie, nachdem Luther zeigte, dass man auch ohne den Segen des Papstes lesen, denken und glauben kann.

Aspekte der Geometrie

Die algebraischen und arithmetischen Kenntnisse gelangten über Handelsbeziehungen vom Osmanischen Reich nach Europa, wurden dort jedoch vorerst kaum weiterentwickelt. Jahrhundertelang wurden in Klöstern neben der Bibel auch die Elemente immer wieder abgeschrieben und dadurch konserviert. Diese Werke wurden nach der Reformation durch den neu erfundenen Buchdruck verbreitet und dadurch außerhalb der Klostermauern wieder entdeckt. Die in Rückbesinnung auf die antiken Denker von Italien ausgehende Renaissance mit ihrem steigenden Interesse an konkreter Forschung, führte zu höheren Ansprüchen an die Geometrie und Algebra, die die Beobachtungen beschreiben sollen. Leonardo da Vinci knüpfte an die Kunst- und Wissenschaftstraditionen der Antike an.

  Leonardo da Vinci, Quelle wikipedia

Einen ersten Bruch mit der mittelalterlichen Tradition zugunsten der antiken Tradition führte schließlich Kopernikus herbei, der das kosmische Modell vereinfachte, indem er, wie Aristarchos, die Erde wieder um die Sonne kreisen ließ. Damit ließen sich die von der Erde aus beobachteten hässlich komplizierten Schleifen in der Bewegungsbahn des Mars vermeiden und die Planeten "kreisten" wieder, ganz im Sinne des antiken Aristoteles, für den Kreise als "vollkommen" galten und dem man versuchte gerecht zu werden. Auch Johannes Kepler versuchte zuerst sein Planetenmodell anhand mystischer Spekulationen mit den Ideen Aristoteles von Reinheit und Symmetrie in Einklang zu bringen,

  Mysterium Cosmographicum, Quelle wikipedia

warf diese Doktrin jedoch schließlich zugunsten seines riesigen Beobachtungsmaterials über Bord. Seine Beschreibung blieb "geometrisch", aber die laut Aristoteles "vollkommenen" Kreisbahnen wurden durch "unvollkommene" Ellipsen abgelöst, die dafür vollkommen den Beobachtungen entsprachen. Die beobachtbare Welt gewann an Bedeutung gegenüber der antiken Ideenwelt. Neben der geometrischen Beschreibung der Planetenbahnen als Ellipsen mit der Sonne in einem ihrer Brennpunkte und der Beobachtung, dass der Pfeil von der Sonne zum Planeten in gleicher Zeit immer die gleiche Fläche überstreicht, stellte Kepler auch einen algebraischen Zusammenhang zwischen den Umlaufzeiten und den Halbachsen her. Nach dem Bruch mit der im Mittelalter von der Kirche gelehrten Weltsicht kam nun also der Bruch mit der antiken Metaphysik. Die Idee der anbrechenden Aufklärung war unter anderem, dass der vernunftbegabte Mensch selbst in der Lage ist, seine Umwelt durch Beobachtung zu verstehen und Gesetze zu erkennen, welche die Beobachtungen beschreiben und voraussagen. Vor allem Kepler und Galilei fanden eine Fülle von mechanischen Gesetzen. Es war die Leistung von Isaak Newton,

  Newton 1689 von Godfrey Kneller, Quelle wikipedia

hinter den algebraischen und geometrischen Gesetzen die Gesetze der Mechanik zu entdecken und (unabhängig von Leibniz) die mathematischen Werkzeuge zu entwickeln, mit denen sich die geometrischen Beobachtungen voraussagen und interpretieren lassen. So entwickelte Newton die Differentialrechnung, aus der sich die Analysis entwickelte. Nur mit einer handvoll Gesetzen ließ sich die Bewegungsbahn eines geworfenen Steins genauso bestimmen, wie die Bahn von Planeten und Kometen oder später der optimale Weg von Apollo 11 zum Mond. Umgekehrt konnte von Bahnen auf Kräfte zurück geschlossen werden. Kurven waren Darstellungen arithmetischer Zusammenhänge und umgekehrt.

Neben der Entstehung der Analysis zur Beschreibung physikalischer Vorgänge, wurde die Geometrie in der Renaissance auch in der Kunst genutzt, z.B. um perspektivisch richtige Darstellungen zu erhalten. Da Vinci und Dürer nutzen das geometrische Wissen der Antike für ihre Kunstwerke und in der Kunstausbildung fand die Geometrie mehr und mehr ihren Platz. Nicht die zeichenbare Kurve rechtfertigte mehr die Existenz der beschreibenden Formel, sondern die Formel rechtfertigt die Kurve. Räumliche geometrische Objekte konnten auf Ebenen projiziert werden. Die dabei entstehenden neuen Kurven erhielten ihre Rechtfertigung aus den Projektionsformeln. Die geometrische Beschreibung von Projektionen mit Pfeilen wird im Skalarprodukt mit Tupeln (Beschreibung dieser Pfeile mithilfe von Koordinaten) realisiert. Es entstand die projektive Geometrie, die Vektoralgebra (wir gehen darauf in der Linearen Algebra ein) und schließlich die Differentialgeometrie, die diese projektiven Techniken mit der Analysis verbindet. Monge, ein Vorreiter dieses neuen Geometrieverständnisses, gründete die École Polytechnique, eine Elitehochschule, an der unter anderem diese Geometrien gelehrt und entwickelt wurden.

1827 bewarb sich der damals sechzehnjährige Evariste Galois an dieser Hochschule. Die Denksperre des Mittelalters war längst durchbrochen, aber, wie Schiller sagt: "Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens." - ein Grundproblem bis heute. Galois wurde abgelehnt. Zwar erahnte später Louis-Paul-Emile Richard die Tragweite von Galois Ideen und schlug ihn erneut für die École Polytechnique vor, aber dort wurden seine Arbeiten von keinem geringeren als Cauchy verschlampt. Galois stellte sich als Achtzehnjähriger erneut der Aufnahmeprüfung der École Polytechnique und fiel endgültig durch, nachdem er sich in der mündlichen Prüfung nicht von den falschen Vorstellungen eines Prüfers überzeugen ließ. Schließlich schickte er noch eine Abhandlung über die allgemeine Lösung von Gleichungen an die Akademie der Wissenschaften. Diesmal war es Poisson, der die Arbeit als "unverständlich" verwarf. Frustriert widmete sich Galois stärker politischen Zielen, wurde in ein Duell hineingezogen und am 30. Mai 1832 erschossen. Am Vorabend des Duells skizzierte er noch in fieberhafter Eile sein mathematisches Vermächtnis. Es war die Antwort auf die Kernfragen der Geometrie und Algebra. Mit seinen Überlegungen ließen sich auch die jahrtausendealten Fragen nach der Quadratur der Kreises, der Drittelung des Winkels und der Würfelverdopplung lösen, indem diese geometrischen Fragen algebraisch formuliert werden. Generationen großer Mathematiker begannen in den Folgejahren Galois Ideen zu Ende zu denken, doch die Gelehrten seiner Zeit verstanden ihn nicht und so wäre er beinahe in der Geschichte untergegangen.

  Evariste Galois, Quelle wikipedia

Konstruierte oder entdeckte Welt

Ein Problem, das hier bereits angeschnitten wurde, soll als letztes behandelt werden: Die Frage, ob Mathematik entdeckt oder erfunden wird. Es ist kein Zufall, dass diese eher philosophische Frage im Zusammenhang mit der Geometrie aufgegriffen wird, ist doch keine andere mathematische Disziplin von jeher so eng mit dieser Überlegung verbunden wie die Geometrie. Es wurde erwähnt, dass Geometrie durchaus in der Natur entdeckt werden kann, z.B. in der regelmäßigen Formgebung von Kristallen und Bienenwaben, im kreisrunden Vollmond, im rechten Winkel zwischen Baum und Erde, in der scheinbaren Ebene des Stillen Ozeans, in der beobachteten Drehung der Sonne um die Erde, etc.. Es liegt nahe, dass die Wahrnehmung dieser Welt die frühe Menschheit zur Geometrie brachte. Doch schon Platon hatte in seiner Ideenlehre die Vermutung, dass die Geometrie nicht diese Welt abbildet, sondern diese Welt ein Abbild der Geometrie ist. Geometrie ist aus dieser Sicht nicht etwas beliebig Konstruiertes (im wahrsten Sinne des Wortes), sondern reine Wahrheit. Aus dieser Sicht heraus gibt es demnach auch keine Wahlfreiheit bei den Axiomen. Die Euklidschen Axiome beschreiben so gesehen nur den tiefsten Grund der Wahrheit und sind deshalb nicht mehr hinterfragbar. Ihre Wahrheit ist an ihrer Schönheit und Ästhetik zu erkennen. Aber auch anschaulich leuchten die Axiome ein, sie beschreiben die Wahrnehmung, die Schatten der Wahrheit, die das Genie überwindet um zur Wahrheit selbst durchzudringen. Eine Folge dieser Sichtweise war unter anderem der wichtige Abstraktionsschritt von konkret gezeichneten Kreisen und Geraden zu den Ideen von diesen geometrischen Objekten, die durch die Zeichnung nur mehr oder weniger unvollkommen dargestellt werden können. So gesehen lässt sich z.B. eine Winkeldrittelung nicht durch messen erreichen (jedes reale Messinstrument ist unvollkommen und führt zu Messfehlern), sondern nur durch Konstruktionen aus dieser idealen Ideenwelt. Und die Ideenwelt wurde nach damaliger Auffassung in den Axiomen von Euklid beschrieben. Doch all diese Schönheit und Reinheit hatte bei Euklid einen Makel. Über 2000 Jahre lang war man aus anschaulichen Gründen der Meinung, Euklids Parallelenpostulat sei überflüssig und mit den anderen Axiomen der Geometrie beweisbar. Wolfgang von Bolyai schreibt dazu seinem Sohn: "Es ist unbegreiflich, dass diese unabwendbare Dunkelheit, diese ewige Sonnenfinsternis, dieser Makel an der Geometrie zugelassen wurde, diese ewige Wolke an jungfräulicher Wahrheit." Doch schreibt er auch: "Du darfst die Parallelen auf ihrem Wege nicht versuchen; ich kenne diesen Weg bis an sein Ende - auch ich habe diese bodenlose Nacht durchmessen, jedes Licht, jede Freude meines Lebens sind in ihr ausgelöscht worden -, ich beschwöre dich bei Gott, lass die Lehre von den Parallelen in Frieden (...) Ich hatte mir vorgenommen, mich für die Wahrheit aufzuopfern; ich wäre bereit gewesen, zum Märtyrer zu werden, damit ich nur die Geometrie von diesem Makel gereinigt dem menschlichen Geschlecht übergeben könnte. Schauderhafte, riesige Arbeiten habe ich vollbracht, habe bei weitem Besseres geleistet, als bisher geleistet wurde, aber keine vollkommene Befriedigung habe ich je gefunden (...) Ich bin zurückgekehrt, als ich durchschaut habe, dass man den Boden dieser Nacht von der Erde aus nicht erreichen kann, ohne Trost, mich selbst und das ganze Menschengeschlecht bedauernd."

Trotz aller Warnungen seines Vaters versuchte sich auch der Sohn Johann von Bolyai an dem Parallelenpostulat. Die Versuche zur Widerlegung des Parallelenpostulates waren bis dahin immer etwa von der Form "Wenn es durch einen Punkt zu einer Geraden mehr als eine Parallele gibt, dann..." (vgl. Beweis durch Widerspruch im Logikkurs). Doch der Sohn versuchte schließlich nicht mehr das Parallelenpostulat zu beweisen. Stattdessen stellten Lobatschewski und er eine neue "Geometrie" vor, die in allen Axiomen der Euklidschen Geometrie entsprach, bis auf das Parallelenaxiom. Die neue Geometrie wurde erst abgelehnt, bis es Klein und Poincaré gelang, sie zu veranschaulichen (das Problem bleibt, dass Wissenschaftler uns immer neue Modelle der Welt vorlegen, die immer unvorstellbarer werden). Trotzdem sah man die Euklidsche Geometrie als überlegen an, beschreibt doch nur sie die "wirkliche" Welt. Euklid hatte zwar recht mit seiner Forderung des Parallelenaxioms, aber zumindest waren diese Axiome aus Sicht der mathematischen Öffentlichkeit nicht beliebig. Und noch mehr: Man musste auch nicht Rechenschaft ablegen, ob diese Axiome sinnvoll sind. Man musste z.B. nicht überprüfen, ob die Axiome zu widersprüchlichen Aussagen führen. Schließlich war ja die der Welt zugrunde liegende Wahrheit die Legitimation der Axiome.

Es war David Hilbert, der an dieser Stelle dem Mythos den Formalismus entgegenstellte. Seiner Meinung nach sind Aussagen über "Wahrheit" mathematisch gar nicht zu leisten. Die Mathematik konstruiert im besten Fall in sich widerspruchsfreie Systeme (in diesem Sinne formulierte er auch die Euklidsche Geometrie noch einmal). Andere Wissenschaften können dann, je nach Anwendbarkeit, das eine oder andere System nutzen um zu konsistenten Aussagen zu gelangen. Im Falle der Astronomie hat sich zum Beispiel gezeigt, dass die Euklidsche Geometrie, deren Unantastbarkeit über Jahrtausende hochgehalten wurde, die Wirklichkeit nicht so gut darstellt wie die Riemannsche Geometrie der allgemeinen Relativitätstheorie. Nun war auch David Hilbert zu optimistisch. Er ging zumindest noch davon aus, dass jede mathematisch formulierbare Aussage mithilfe der Mathematik prinzipiell beurteilt werden kann (wenn auch nicht auf "Wahrheit"). Doch 1931 stellte Kurt Gödel mit Hilfe primitiv-rekursiver Prädikate eine Formel auf, die ihre eigene Unbeweisbarkeit behauptet. Mit Aussagen dieser Art brachte schon Bertrand Russell das schöne Gebäude der Cantorschen Mengenlehre zum Einsturz.

Viele, auch grundlegende Fragen sind noch unbeantwortet. Einerseits büßte die Geometrie immer mehr ihre Unantastbarkeit ein, andererseits wurden die Erfolge bei der geometrischen Beschreibung unserer Welt immer bestechender. Wenn die Mathematik nur ein beliebiges erfundenes Spiel ist, wieso lässt sie sich dann so vortrefflich anwenden? Auch Heitler stellt sich diese Frage mit Blick auf die Geometrie: "Welchen Grund sollte der Planet Merkur haben, sehr genau die Bahn nach der Formel zu verfolgen (einschließlich der jährlichen Periheldrehung von 43"), die aus der allgemeinen Relativitätstheorie abgeleitet ist? Er tut es sicher nicht dem Physiker zu Gefallen. Man kann nicht einfach daran vorbeigehen, dass das Gesetz ein Naturgesetz ist." Wir stehen also immer noch dort, wo wir begonnen haben. Wir erkennen, dass diese Welt irgendetwas mit Geometrie zu tun hat. Wir "wissen" inzwischen mehr über diese Welt und auch über die Geometrie, aber der eigentliche Zusammenhang bleibt weiter im Dunkeln.

Die Platonisten berufen sich weiter darauf, dass Mathematik eine eigene Form von Wirklichkeit ist, die erforscht werden kann. Sie haben sich damit abgefunden, dass es nicht nur eine, sondern viele solcher Wirklichkeiten gibt, die einander auch widersprechen und somit nur getrennt voneinander existieren können. Sie mussten sich sogar damit abfinden, dass in vielen dieser Wirklichkeiten bestimmte Fragen nicht beantwortet werden dürfen und wenn man sie doch beantwortet, muss man andere Fragen, auf die man bisher eine Antwort hatte, unbeantwortet lassen, um sich nicht in Widersprüchen zu verheddern.

Die Formalisten berufen sich weiter darauf, dass Mathematik eine Aneinanderreihung von Zeichen und Symbolen nach bestimmten willkürlichen Regeln ist, die eben manchmal auch zur Beschreibung der beobachteten Welt nützlich ist. Dass die Mathematik aber auch dann noch erfolgreich ist, wenn sie auf neue Objekte angewandt wird, bleibt aus dieser Sichtweise ein Wunder.

Das Problem ist, etwas tiefer angesetzt, die Frage, inwieweit ein Außen und ein Innen existiert und wie sie abgegrenzt werden können. Mathematik spielt sich in uns ab (oder außerhalb von uns) und wir beobachten eine Welt um uns herum (oder in uns)? Solchen grundsätzlichen Fragen ist nicht beizukommen, erst recht nicht durch Naturwissenschaften oder der Psychologie, denn die setzen dass "außen" bereits voraus (der Psychologe sieht von außen auf das Hirn eines anderen und glaubt deshalb, ein Hirn zu haben, dass die Information "Hirn" verarbeitet). Die Mathematik bleibt hier die Grundlagenwissenschaft. Und so spielt man sein lieb gewonnenes Spiel weiter, staunend, was dabei aller herauskommt.

"Mathematik kann definiert werden als die Wissenschaft, in der man weder weiß, wovon man spricht, noch ob das, was man sagt, wahr ist." (Bertrand Russell)

(Text E. Böhm, 2001)